Ich bin viele – Identität jenseits der Schubladen
Wie Geschlecht, sexuelle Orientierung und Sprache unsere Selbstwahrnehmung beeinflussen – und warum es keine falschen Fragen gibt.
„Sexualität und Identität sind kein Ziel, sondern ein Weg.“
Dieser Satz begleitet mich nicht nur persönlich, sondern auch in meiner Arbeit. Immer wieder treffe ich auf Menschen, die sich fragen: Wer bin ich eigentlich – jenseits von Erwartungen, Rollenbildern und klaren Schubladen?
Wir leben in einer Zeit, in der Begriffe wie nicht-binär, pansexuell oder genderfluid immer häufiger auftauchen – und dennoch bleiben viele Fragen offen. Was genau bedeutet das alles? Und wozu „diese ganze Haarspalterei“?
Dabei geht es nicht nur um Selbstfindung im stillen Kämmerlein. Es geht um Sichtbarkeit, um Sprache – und um die Freiheit, mich zu zeigen, wie ich bin. Auch dann, wenn das nicht in eine bestimmte Schublade passt.
Vielfalt beginnt im Körper
Schon in der Embryonalentwicklung zeigt sich: Geschlecht ist keine einfache Entweder-oder-Frage. Unsere Körper entwickeln sich entlang vielfältiger Möglichkeiten. Menschen kommen mit vielfältigen körperlichen Anlagen zur Welt – das biologische Geschlecht ist nicht immer eindeutig. Intergeschlechtlichkeit ist ein Beispiel dafür, dass es nicht nur „Mann“ oder „Frau“ gibt. Trotzdem halten wir an klaren Kategorisierungen fest: Schwarz oder Weiß. Dabei liegt die Wahrheit oft dazwischen – oder ganz woanders.
Doch Geschlecht ist nicht nur Biologie. Es ist auch: Gefühl, Ausdruck, Beziehung, Sprache.
Gender als etwas, das wir tun?
Judith Butler bringt es in Queer-Theorie auf den Punkt: Geschlecht ist nicht etwas, das wir sind – sondern etwas, das wir tun. Täglich. In unserer Kleidung, unserer Stimme, unserem Verhalten. Gender, so sagt sie, ist eine kulturelle Praxis. Und genau deshalb veränderbar.
Das kann verunsichern und ist herausfordernd – allerdings auch befreiend. Denn es eröffnet neue Räume, sich selbst zu entdecken und zu gestalten.
Sexuelle Fluidität – alles in Bewegung?
Viele Menschen erleben ihre sexuelle Orientierung als stabil, andere eher beweglich. Lisa M. Diamond spricht von „sexueller Fluidität“: Das bedeutet, dass sich Anziehung im Laufe des Lebens in bestimmten Kontexten verändern kann – nicht beliebig, aber dynamisch.
Sexuelle Orientierung beschreibt ein eher langfristiges Muster – also zu wem wir uns über längere Zeit hinweg hingezogen fühlen. Sexuelle Fluidität meint dagegen die Möglichkeit, von diesem Muster abzuweichen – abhängig von Lebensphase, Beziehung oder Situation, ohne dass ich gleich eine neue Identität brauche.
Du warst lange hetero und plötzlich fühlt sich etwas anders an? Oder umgekehrt? Das ist keine Phase. Es ist Leben!
Coming-out ist ein Prozess?
Sich selbst zu verstehen – und das auch anderen zu zeigen – kann mehr sein als ein Prozess. Meistens braucht es auch Zeit und Mut. Prinzipiell kann der innere Weg (ich weiß, wer und was ich bin) vom äußeren (ich teile es anderen mit) unterschieden werden. Das Nach-außen-gehen ist oft kein einmaliger Schritt, sondern ein wiederkehrender Prozess: in neuen Beziehungen, neuen Jobs, neuen Lebensphasen.
Und: Niemand ist verpflichtet, sich zu outen. Jede Geschichte ist anders. Und alle sind gültig! Unterstützung dabei, tut meistens gut.
Reflexionsimpulse zum Mitnehmen:
- Wann hast du das erste Mal über deine sexuelle Orientierung nachgedacht? Wie war das?
- Welche Bilder von Männlichkeit oder Weiblichkeit hast du gelernt – und was davon passt (nicht) zu dir?
- Wann hast du dich zuletzt verletzlich gezeigt, um echt zu sein?
Zum Weiterschmöckern:
Judith Butler (2016): Das Unbehagen der Geschlechter, Suhrkamp
Lisa M. Diamond, 2008: Sexual Fluidity: Understanding Women’s Love and Desire, Harvard University Press
Und in diesem queeren Glossar kannst du alle Begriffe genau nachlesen! Danke, tolle Website!
Foto: Eigenproduktion, mit Dank an Peter 😉




